Liebe Schwestern, liebe Brüder,

An der JVA - Pforte, wo das Warten geübt wird, fragt mich einer, wieso ich ehrenamtlich besuche. "Verrückte Christen. Ich möchte in den Himmel kommen, denn: 'ich saß im Gefängnis und du hast mich besucht.‘" (frei nach Mt 25, 36) Ich muss hören, was ich sage, damit ich weiß, was ich denke.

Petra Morsbach hat 2004 den Roman "Gottesdiener" veröffentlicht: Isidor Rattenhuber ist Pfarrer in Bayern. In seiner Kaplanszeit stellt er wegen des unberechenbaren Vorgesetzten einen Versetzungsantrag.  Dann  begegnet ihm Herr Beneke, der Atheist, mit dem er diskutiert. Seine Cousine Roswitha wohnt einige Jahre bei ihm, damit er die Einsamkeit besser aushält und den Alkohol nicht missbraucht. Priesterkollegen machen Karriere oder vertiefen sich weltentrückt in die Theologie oder schließen sich erzkonservativen Bewegungen an oder führen Doppelleben. Und die Menschen sind bigott, heuchlerisch, gleichgültig und engagiert, fromm sowie treu. Die Glaubensleere seiner Kirche wirkt erdrückend. Ein ganz normaler Priester in einer ganz normalen Pfarrei, die gemeinsam ganz normal scheitern an hohen Ansprüchen und der deutschen Wirklichkeit im 21. Jahrhundert. Isidor Rattenhuber und die ihn umgebenden Menschen halten durch, Melancholie mit einem Schuss Hoffnung. S. 338: "Er dachte: Die ganz Existenz ist ein Wunder. Alles, was wir hier zu tun haben, ist, uns ihrer würdig zu erweisen. Isidor hat versucht, sich daran zu halten, und wahrscheinlich ist das sogar das ganze, einfache Geheimnis seiner Theologie." Jedem Kapitel werden ein Abschnitt aus der Liturgie der Priesterweihe bzw. Bibelzitate vorausgeschickt. Gottes Volk: ratlos wie die Artisten in der Zirkuskuppel.

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor einem halben Jahrhundert ist es amtlich: Neben dem hierarchischen Amtspriestertum wird das natürliche Priestertum aller Gläubigen etabliert. Taufe wird zur "kleine" Priesterweihe erklärt. Ich radle vom JVA-Besuch spirituell bewegt heim. Die Begegnung mit einem Gefangenen ist eine Christus-, also eine Hohepriesterbegegnung. Den Fuß genau am Totpunkt der Kurbel, lache ich auf: Die Metamorphosen des Gottesvolks haben ihre Zeit, weil es dem Himmel so gefällt.
Renate Gottschewski
 

Liebe Grüße von Renate Gottschewski